Audio Guide:
Die Kirchentüren

Eine gute Frage

„Papa, wieso gehen wir immer nur durch die eine Tür von der Kirche? Ich will auch mal durch die andere gehen!“

„Ach, weißt du, weil es schon immer so ist.“

„Aber Papa, warum ist es denn schon immer so?“

„Hm, also... das weiß ich auch nicht.“


Nun, ihr beiden – und auch Sie, liebe Zuhörer. Ich möchte Ihnen gern erklären, warum die Gottesdienstbesucher immer nur durch die eine Tür in die Kirche gehen.

Drehen Sie sich einmal um. Jetzt sehen Sie zwei Eingänge unter dem Turm, durch welche man jeweils über einen Vorraum ins Kirchenschiff und auf die Emporen gelangt. Der rechte Eingang, also der südlich gelegene, wird bis heute als regulärer Eingang für die Gemeinde und Besucher der Gottesdienste genutzt. Der linke, also der nördlich gelegene Eingang, bleibt jedoch meist verschlossen. Höchstens zu Heiligabend und anderen besonderen Anlässen wird er ausnahmsweise geöffnet.

Die Grafenloge

Um diesen besonderen Tick der Wechselburger Kirchgänger zu verstehen, müssen wir zunächst einmal fast 300 Jahre zurückblicken.

Als die Kirche 1737 als Pfarrkirche geweiht wurde, diente sie auch als Hofkirche für die Grafen von Schönburg. Durch eine Allee, welche zwischen Schloss und St. Ottokirche verlief, konnte der Graf auf direktem und geradem Weg von seiner Residenz in die Kirche gelangen. Eben jene Allee endete genau am nördlichen Eingang.

Durch diesen Eingang gelangte der Graf mit seiner Familie über eine Treppe und die erste Empore in seine eigene Loge, welche nördlich vom Altarraum liegt. Von dort hatte er einen direkten Blick auf Altar und Kanzel. Den besten Platz im ganzen Kirchenbau also. Der Graf war sehr beliebt in der Gemeinde, war er doch auch Patron der hiesigen Kirche. Wegen ihm waren die Gottesdienste wohl auch immer recht gut besucht. Jeder wollte einmal den Gottesdienst mit dem Grafen feiern.

Nun könnte man meinen, aus Respekt vor dem Grafen ging kein normaler Bürger durch den nördlichen, also den Grafeneingang. Dies ist jedoch nicht anzunehmen, denn auch auf der nördlichen Emporenseite, welche der Graf nutzen musste, um zu seiner Loge zu kommen, waren Sitzplätze für normale Bürger vorgesehen. Der Graf musste also durchs Volk, um an seinen Ehrenplatz zu gelangen.

Image

Die Grafenloge der St. Ottokirche.

Der Wechselburger Kirchenstreit

Doch was ist nun der Grund, warum heute keiner diesen Eingang nutzt?

Der Anlass dafür liegt wohl im Jahre 1869. Im März dieses Jahres konvertierte Graf Carl von Schönburg-Forderglauchau mit seiner Gemahlin Adelheid während einer Italienreise überraschend zum katholischen Glauben. Dieses Ereignis erregte in der Heimat außerordentliches Aufsehen und wurde in der sächsischen Presse kontrovers diskutiert. Vor allem die Tatsache, dass mit Carl ein Mitglied einer bedeutenden sächsischen Grafenfamilie dem Luthertum abschwor, sorgte für erhebliche Unruhe.

In seinem Herrschaftsgebiet, also auch in Wechselburg, verweigerten die Untertanen das übliche Kirchengebet für den Grafen und forderten die Aufgabe seiner Kirchenpatronatsrechte. Der Versuch Carls, aus der einstmals protestantischen Wechselburger Schlosskirche, der heutigen Basilika Heilig Kreuz, eine katholische Andachtsstätte zu machen, rief ebenfalls heftige Widerstände hervor und ging als „Wechselburger Kirchenstreit“ in die sächsische Kirchengeschichte ein.

Als Folge dieser Ereignisse kann angenommen werden, dass die Allee zwischen Schloss und evangelischer St. Ottokirche unterbrochen und der Durchlass in der Kirchenmauer verschlossen wurde. Sicherlich aus Trotz und Auflehnung benutze fortan kein Wechselburger Gottesdienstbesucher mehr den Grafeneingang, um das Gotteshaus zu betreten.

Heute ist der Groll der damaligen Zeit längst verflogen. Katholische und evangelische Christen leben ihren Glauben gemeinsam in einer Ökumene, wie sie näher nicht sein könnte. Der besondere Tick, immer nur den bürgerlichen Eingang zu nutzen, ist aber geblieben.

Image
Image
Image
Image